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Pioniergeist statt Beton

«Ein Selbstbau-Projekt aus Hankkalk»

"Ja, Tartar liegt auf meinem Weg – steigen Sie nur ein," erklärt die Fahrerin mit kunstvoll hochgesteckter Lockenfrisur und öffnet lächelnd die Türe zum postgelben Minibus. Nur wenige Augenblicke später brausen wir schon vom Bahnhof Thusis den Heinzenberg hinauf und klettern mit jeder Serpentine höher über die weite Talschaft des Domleschg. Meine Chauffeurin lässt unser Gefährt mit routinierter Gelassenheit um die Kehren sausen – beim ersten Mal halte ich noch den Atem an, doch die Frau hinter dem Steuer hat alles fest im Griff. Also lehne ich mich entspannt zurück und geniesse die wunderbare Aussicht in die eindrucksvolle Bergwelt des Oberhalbstein.

Nach kurzer Fahrt erreichen wir auf 1.000 Metern Seehöhe den von Bürgerhäusern und Wirtschaftsgebäuden gefassten Dorfplatz der etwa 160 Einwohner zählenden Fraktion der Gemeinde Cazis. Bei der kleinen grau-weiss verputzten Kirche steige ich aus und mache mich auf den Weg zu meiner Gastgeberin, einem liebevoll gezeichneten Orientierungsplan folgend.

Nachdem ich mich zwischen sonnengebeizten Tennen und Ställen durch schmale Gässchen geschlängelt habe, erreiche ich am unteren Rand des Weilers einen mit Obstbäumen durchsetzten Permagarten, der buchstäblich atemberaubende Blicke ins Tal eröffnet. Dort wird an der Errichtung von zwei eingeschossigen Wohnhäusern gearbeitet, die zusammen mit einem bereits bestehenden Chalet ein bogenförmiges Ensemble um den Grünraum bilden. Die Wände unter den auskragenden Dächern sind aus einem geheimnisvollen Material gefertigt, dessen geschichtete, ockerfarben schimmernde Textur an Stampflehm erinnert, beim Nähertreten jedoch offensichtlich eine ganz andere Beschaffenheit aufweist.

"Hanfkalk ist einfach ein genialer Baustoff," begrüsst mich May-Britt Meisser mit kräftigem Händedruck, als sie aus einem der Häuser tritt und meinen neugierigen Blick bemerkt. Wie wohl an jedem Tag seit über einem Jahr, ist die gelernte Malerin auch heute auf der Baustelle anzutreffen, denn sie hat den Entschluss gefasst, ihr zukünftiges Zuhause nicht nur selbst zu planen, sondern auch mit den eigenen Händen zu bauen. Und dieses Vorhaben setzt sie nun mit viel Engagement und Pioniergeist in die Tat um.

Ein grosszügiges Angebot

Schon bald nach ihrem Abitur hatte sie sich dafür entschieden, von der norddeutschen Kulturmetropole Hannover in die schroffe Gebirgslandschaft Graubündens zu ziehen. Denn sie wollte auf die Alp gehen und folgte diesem Ruf schliesslich für 10 Sommer. Nach der Zeit als Sennin absolvierte sie eine Ausbildung zur Fachfrau für Naturfarben und -verputze, um gleich ihren eigenen Betrieb zu gründen, den sie nun seit 27 Jahren erfolgreich führt. Es ist auf den ersten Blick zu erkennen, dass die energievolle Frau gern mit den Händen arbeitet. Wenn sie etwas erklärt, greift sie behutsam nach den Dingen oder lässt ihre Finger über die Oberflächen gleiten. Meinen Fragen hört sie aufmerksam zu und nimmt sich dann Zeit, um Details und Hintergründe in Ruhe zu erörtern. Fällt das Gesprächsthema jedoch auf ihr Lieblingsmaterial, beginnen ihre Augen zu strahlen und die Handbewegungen werden lebhafter. Denn es ist offensichtlich, dass Hanfkalk eine Leidenschaft ist, die sie mit grosser Begeisterung teilt.

"Den Baustoff lernte ich durch meine Recherchen kennen, welche natürlichen Materialien und nachhaltigenTechniken sich für den Selbstbau besonders eignen, um konsequent auf synthetische wie auch industrielle Produkte zu verzichten. Denn nachdem ich mehrere Jahre vergeblich ein geeignetes altes Haus gesucht hatte, das ich renovieren und nach meinen eigenen Vorstellungen umbauen konnte, ergab sich unerwartet die Gelegenheit, mein zukünftiges Zuhause als Neubau zu realisieren," erzählt die passionierte Handwerkerin.

Ein Zufall führte May-Britt zu Christine Hedinger, die mit Hilfe der Landschaftsarchitektin und Gemüsegärtnerin Maja Schniepper das Feld vor ihrem Haus in einen Permagarten umwandelte. Sie unterbreitete den beiden Frauen das grosszügige Angebot, dieses Bauland für die Errichtung von zwei nachhaltigen Eigenheimen zur Verfügung zu stellen und den Garten anschliessend gemeinsam zu bewirtschaften. Zu diesem Zweck überschrieb sie ihren Besitz der Stiftung Edith Maryon, die sich zum Ziel gesetzt hat, Grundstücke der Spekulation zu entziehen, um gemeinschaftlichen, ökologisch verträglichen und innovativen Wohnraum zu schaffen.

Die beiden zukünftigen Bauherrinnen unterzeichneten daraufhin im Mai 2021 einen Baurechtsvertrag mit der gemeinnützigen Organisation und gingen das Projekt Hausbau unter der Prämisse an, so viel wie möglich selbst zu machen. In einem ersten Schritt setzten sie sich mit den Architektinnen Margit Geiger und Carmen Münger aus Chur zusammen und entwickelten gemeinsam die Entwürfe bis zur Baueingabe. Die Werk- und Detailplanung erarbeiteten sie dann direkt mit den beteiligten Unternehmern und einem sich langsam entwickelnden Netzwerk von Hanfkalk-Interessierten und -Spezialisten.

Die Kraft der Gemeinschaft

"Die eigentlichen Bauarbeiten begannen schliesslich im Frühjahr 2022 mit einer grossen Aufregung. Denn der beauftragte Baumeister, der die Erschliessung des Grundstückes, wie auch die Erdarbeiten für die Infrastruktur und die Fundamente ausführen sollte, erschien zum vereinbarten Zeitpunkt einfach nicht. Als er auch nach wiederholten Anfragen immer neue Ausreden fand, um nicht mit den Arbeiten zu beginnen, wurde es langsam brenzlig für uns, denn plötzlich drohte der gesamte Zeitplan zu kippen. Doch gerade in dieser schwierigen Situation zeigte sich der grossartige Zusammenhalt unserer Gruppe," berichtet May-Britt mit sichtbarer Erleichterung.

Ihr Zimmermann organisierte einen Baggerfahrer, der bereits 3 Tage später mit den Grabungsarbeiten begann. Mit Hilfe eines befreundeten Poliers sowie der Unterstützung von Bekannten und Kollegen wurde der Tiefbau schliesslich in Eigenregie durchgeführt. Sechs Wochen lang standen die beiden Frauen von morgens bis abends auf der Baustelle und lernten, wie man betoniert oder Abwasserrohre verlegt.

Um die Fundamente zu schaffen, kombinierten sie Frostriegel mit aufbetonierten Sockeln, die auf der Innenseite mit Foamglasplatten isoliert wurden, und schütteten Sickerkiespackungen an die Aussenseiten. Zusätzlich verlegten sie Drainagerohre entlang der Nordseite, um das Hangwasser aufzufangen. In der Mitte von May-Britts Haus wurde zudem ein Betonkreuz gegossen, das als stabile Plattform für die Dachlasten, die Zwischenwand zum Schlafzimmer, den Ofen und die Heizwände aus Stampflehm dient.

Auf dieser Grundlage errichtete der Zimmermann Holzständer-Konstruktionen, die das statische Tragwerk der beiden Häuser bilden. Dank seiner schnellen und effizienten Arbeit gelang es, die gesamte Struktur innerhalb von drei Tagen aufzustellen, so dass das Hanfkalk-Team pünktlich Mitte Juni loslegen konnte. Dieses wurde bereits im Winter zusammengestellt, denn die Malerin verfügt über ein grosses Netzwerk von selbständigen Handwerkerinnen und Handwerkern, die sich ihre Zeit frei einteilen können. Also fragte sie in die Runde, wer im Sommer für zwei bis drei Monate Kapazitäten habe, um das Bauen mit Hanfkalk zu lernen. Es meldeten sich zahlreiche Interessierte, aus denen sich rasch eine engagierte Gruppe bildete, welche die beiden Häuser schliesslich gemeinsam umsetzte.

Multitalent auf der Baustelle

"Das Material entpuppte sich als hervorragende Wahl für unser Projekt, denn der Einsatz von Hanfkalk bietet viele praktische Vorteile für Selbstbauer," erklärt May-Britt mit Überzeugung. "Einer der Hauptgründe für seine Verwendung ist das Wirken von geringeren mechanischen Kräften, als etwa im Vergleich zu Stampflehm oder Beton. Beim Einbringen der Masse in die Gleitschalung oder beim Komprimieren konnten wir Handarbeit und Muskelkraft einsetzen, wodurch teure Maschinen überflüssig waren. So verdichteten wir zum Beispiel nur mit einem einfachen Holzbrett und nicht mit einem elektrisch betriebenen Rüttler. Darüber hinaus bot seine Verarbeitung unserem Team ein grosses Mass an Kontrolle über den Bauprozess und auch Flexibilität. Wir konnten die Mischung vor Ort anpassen und die Schalung genau nach unseren Bedürfnissen gestalten, was uns die Umsetzung individueller Wünsche und passgenauer Lösungen erlaubte."

Einen weiteren Vorteil stellen auch die ökologischen Aspekte dar. Denn der nachhaltige Baustoff besteht ausschliesslich aus natürlichen Komponenten, dem Holz des Hanfs ohne Fasern, den sogenannten Schäben, Kalkhydrat und hydraulischen Mineralien. Er ist also frei von Schadstoffen und zusätzlichen Chemikalien, was bedeutet, dass er ebenso von nicht spezialisierten Arbeitskräften ohne Risiken verwendet werden kann. Und nicht zuletzt ist er wirtschaftlich. Im Vergleich zu den meisten anderen Verfahren sind bereits die Ausgaben für das Material selbst geringer, was zusammen mit dem hohen Anteil an Eigenleistung die Gesamtkosten weiter senkt.

Doch nicht nur die Vorteile beim Bauen sprachen für die Entscheidung, Hanfkalk zu wählen. Denn das Material weist auch eine Reihe von bemerkenswerten bauphysikalischen Eigenschaften auf. Durch seine spezifische Struktur bietet es eine ausgezeichnete Wärmedämmung, die dazu beiträgt, dass Räume im Sommer angenehm temperiert und im Winter gut gegen die Kälte isoliert bleiben. Darüber hinaus wird überschüssige Feuchtigkeit ausgeglichen, was zu einem gesunden Raumklima beiträgt und das Risiko von Schimmelbildung reduziert. Ein weiterer Pluspunkt ist der hervorragende Brandschutz. Aufgrund seiner mineralischen Bestandteile ist Hanfkalkschwer entflammbar und kann zur Erhöhung der Feuersicherheit von Gebäuden beitragen. Weiters bietet der Baustoff auch eine gute Isolation gegen Lärm. Seine poröse Struktur absorbiert die Schallwellen und dämpft so ihre Übertragung, wodurch eine angenehme Akustik entsteht. Durch das Verputzen der Wände kann im Wohnbereich eine optimale Schalldämmung erreicht werden, da Hanfkalk nicht hermetisch abdichtet und luftdurchlässig ist.

Neben den genannten Vorteilen wirkt das Material auch hypoallergen, weil Hanf von Natur aus resistent gegen Pilze und Schädlinge ist. Dies macht Hanfkalk besonders geeignet für Personen mit Allergien oder empfindlichen Atemwegen, denn seine Verwendung trägt dazu bei, die Qualität der Innenraumluft zu verbessern und ein gesundes Wohnklima zu schaffen. Darüber hinaus erweist sich der Verbundstoff als CO2-negativ, wenn keine zementbasierten Bindemittel verwendet werden, und ist nicht nur biologisch abbaubar, sondern wird sogar zur Bodenverbesserung und als Unkrautschutz eingesetzt.

Ein Ort des Wohlbefindens

"Die Arbeiten an den beiden Häusern führten wir dann versetzt parallel durch," erzählt May-Britt bei unserem Rundgang durch das kleine Ensemble. "Dabei begannen wir auf meiner Baustelle mit den Aussenwänden und als diese standen, wechselte unser Team zu Maja. Danach kehrten wir zu mir zurück, um das Dach zu fertigen, und so weiter. Dieses Hin und Her ermöglichte es, bei beiden Projekten effizient voranzukommen. Wir füllten die Schäben mit dem Kalk und den Mineralstoffen unter Zugabe von Wasser direkt auf der Baustelle in einen Mischer und schütteten die Masse dann in eine Gleitschalung, die mit der Mauer mitwuchs. So wurden die Ständer der Holzkonstruktion Schicht für Schicht eingestampft, bis wir die Höhe der Dachsparren erreicht hatten."

Danach wurde auf der Kalkschotter-Schüttung der Böden eine Schicht von 27 cm Hanfkalk aufgebracht, die in Majas Haus einen Belag aus Holzbrettern erhielt und bei May-Britt eine Oberfläche aus Sumpfkalk. Für den Aufbau des Daches schraubte das Bauteam Kanthölzer unter die Sparren und befestigte daran Schilfmatten wie auch eine vollflächige Schalung, die später wieder entfernt wurde. So konnten von oben 33 cm Hanfkalk eingestampft und als Abschluss vollflächig mit Kalkschlämmputz abgedeckt werden, um die Hanfschäben zu binden. Nun folgten 8 cm Luft und eine permanente Holzschalung, welche mit einer Unterdachfolie belegt wurde, und nach weiteren 6 cm Luft schliesslich Wellblechplatten. Auf einem der Dächer wird noch eine Photovoltaik-Anlage installiert, um gemeinsam mit einem Windrad die möglichst autarke Energieversorgung des Wohnprojektes zu garantieren.

Inzwischen sind die Installationsarbeiten abgeschlossen, die Öfen angeschlossen sowie die Küchen und Bäder weitgehend eingerichtet. Doch wartet immer noch viel Arbeit auf die beiden Selbstbauerinnen, die im Moment mit der Innenausstattung und der Ausführung der Oberflächen beschäftigt sind. In Majas Haus stapeln sich die Material- und Farbmuster, und sind bereits zu kühnen Kombinationen zusammengelegt, während bei May-Brittdie Vorbereitungen für einen Lehmbau-Workshop laufen. Denn Ende Juni werden, wieder gemeinsam mit Interessierten, zwei beheizbare Stampflehmwände errichtet und auch die organisch geformte Wandskulptur, welche die Dusche umschliesst, will noch aus Lehmsteinen geschichtet werden.

Als wir schliesslich gemeinsam auf der nach Holz duftenden Veranda sitzen, unsere Rücken an die behaglich temperierte Hanfkalk-Wand lehnen und starken, heissen Kaffee schlürfen, schweift mein Blick über den frühsommerlichen Garten hinab ins Domleschg. Dort springen zaghaft die ersten Lichter an und lösen sich als zierliche gelbe Punkte aus den Schatten des Tales. Langsam durchströmt mich ein tiefes Gefühl von Ruhe und Wohlbefinden, denn die Gemeinschaft der drei solidarischen, tatkräftigen und auch mutigen Frauen hat diesen Ort mit Wärme und Leben erfüllt. Durch ein grosses Mass an Herzblut und Kreativität, ein tragfähiges Netzwerk und nicht zuletzt die Arbeit ihrer eigenen Hände haben sie in dem kleinen Bündner Bergdorf einen inspirierenden Raum der Begegnung und des Wachstums geschaffen.

Text: Tina Mott

Die Selbstbauerin:

May-Britt Meisser

malhandwerk

info@malhandwerk.ch

Fundament und Holzständer-Konstruktion
Mischen, Einfüllen und Stampfen der Hanfkalk-Masse
Innenräume