Der Lehmstein erlebt ein Comeback als Schlüsselmaterial der Bauwende. Einfach zu verarbeiten, regional herstellbar und vollständig kreislauffähig vereint er baubiologische Qualität, Gesundheit und Klimaschutz. Dank neuer Normen ist er heute auch tragend einsetzbar – ein Baustoff mit grosser Zukunft.

Wer heute über nachhaltiges Bauen spricht, landet schnell bei Hightech-Lösungen, High-Performance-Beton oder smarter Gebäudetechniken. Dabei liegt eine der cleversten Antworten seit Jahrtausenden buchstäblich unter unseren Füssen: der Lehm. Und unter den vielseitigen Lehmbautechniken ist meiner Meinung nach der unscheinbare Lehmstein der heimliche Gewinner der Bauszene. Warum? Weil er einfach ist. So einfach, dass ihn jeder Maurer und jede Handwerkerin versteht.
Wer schon einmal Backsteine, Kalksandsteine oder Betonsteine gemauert hat, kann auch mit Lehmsteinen arbeiten. Kein Hexenwerk, keine Spezialmaschinen, keine riesigen Investitionen in Infrastruktur. Mörtel, Wasser, Handwerk – fertig. Und genau diese Niederschwelligkeit macht den Lehmstein zu einem Schlüsselmaterial für die Bauwende.
Lehmsteine sind nicht nur Baustoff, sie sind Klimaregler im Dienste der Gesundheit. Durch ihre natürliche Sorptionsfähigkeit nehmen sie Feuchtigkeit aus der Raumluft auf und geben sie wieder ab, wenn die Luft zu trocken ist. So schaffen sie ein konstantes, gesundes Raumklima.
Wer in Räumen mit Lehmbaumaterialien lebt, kennt dieses besondere Gefühl: keine Überhitzung, keine übermässige Trockenheit, sondern ein feiner Ausgleich. Man könnte sagen: Wellness für die Bausubstanz und für die Menschen, die darin wohnen.
Baubiologisch punkten Lehmsteine gleich mehrfach:
• Lehmsteine sind giftfrei und frei von problematischen Zusatzstoffen - im Gegenteil, sie binden sogar Schadstoffe.
• Lehmsteine können aus regional gewonnenem Material (z.B. Aushub) hergestellt werden.
• Die Energie steckt hier nicht im Ofen, sondern in der Handarbeit – sie werden durch Trocknung gebrauchsfähig.
• Unstabilisierte Lehmsteine sind komplett rückbaubar und können am Ende des Lebenszyklus wieder in den Stoffkreislauf zurückgeführt werden.
Mit anderen Worten: Ein Baustoff, der weder Altlasten noch graue Energieberge hinterlässt.
Lehmsteine lassen sich wie Backsteine verarbeiten. Auf der Baustelle können sie gesägt, gebohrt oder mit dem Hammer geschlagen werden. Ihre Bearbeitung erfordert etwas Fachkenntnisse, jedoch keine schweren Geräte, sondern gutes Werkzeug und solide Handarbeit. Das macht sie zugänglich – auch für kleinere Betriebe, Selbstbauer:innen oder Renovationsprojekte.
In Kombination mit Lehmputzsystemen entstehen zeitgemässe, robuste Wandaufbauten, die zugleich warm wirken, akustisch angenehm sind und sich gestalterisch vielfältig nutzen lassen. Der Lehmstein ist also nicht nur ein funktionaler Baustoff, sondern auch ein Material für Atmosphäre und architektonischem Gestaltungspotenzial.
„Schön und gut“, könnte man sagen, „aber ist das auch baurechtlich vertretbar?“ Die Antwort lautet: ja.
Was früher als Nischenlösung galt, ist heute als genormtes Bauprodukt verfügbar. Mit der deutschen Norm DIN 18945 werden Lehmsteine klar definiert: von der Druckfestigkeitsklasse bis zur Kennzeichnung. Ergänzt wird sie durch die DIN 18940, die 2023 eingeführt wurde und erstmals eine vollständige Bemessungsgrundlage für tragendes Lehmsteinmauerwerk liefert.
Damit sind Lehmsteine nicht mehr nur für Innenausbauten interessant, sondern können auch als tragendes Mauerwerk eingesetzt werden – sogar mehrgeschossig, je nach Projekt bis zu fünf Etagen. Für Planer, Behörden und Bauherrschaften bedeutet das: Planungssicherheit, verlässliche Qualitätsstandards und endlich greifbare Argumente für die Anwendung im Baualltag.
Die Nachfrage nach regionalen Baustoffen steigt. Energieintensive Materialien geraten zunehmend unter Druck, während Bauherrschaften nach klimafreundlichen Alternativen suchen. Der Lehmstein erfüllt genau diese Anforderungen: regional, kreislauffähig, gesund und normativ abgesichert. Forschungen der Empa und ETH zeigen, dass auch hierzulande das Potenzial gross ist – nicht nur im Einfamilienhaus, sondern auch im mehrgeschossigen Wohnbau.
Es spricht also vieles dafür, dass der Lehmstein in den nächsten Jahren vom „Exoten“ zum Alltagsstein wird.
Am Ende ist der Lehmstein mehr als nur ein Mauerwerksstein. Er ist ein Stück Erdverbundenheit, eingebaut in die Architektur. Jeder Stein erzählt die Geschichte des Bodens, aus dem er stammt. Er bringt die Natur ins Haus, ohne gross Aufsehen zu erregen – leise, aber wirksam.
Vielleicht ist es gerade diese Zurückhaltung, die ihn zum „heimlichen Gewinner“ macht. Er kommt ohne Glamour, ohne technische Effekte. Dafür mit Eigenschaften, die uns heute wichtiger sind denn je: Einfachheit, Natürlichkeit, Gesundheit und Zukunftsfähigkeit.
Wer ökologisch und baubiologisch sinnvoll bauen will, sollte den Lehmstein neu entdecken.
In der Schweiz sind Lehmsteine über verschiedene Natur-Baustoffhändler und spezialisierte Anbieter erhältlich.
Unterstützung bei Planung und Ausführung bieten Netzwerke wie Baubioswiss, IG Lehm Schweiz oder baubiologisch tätige Fachplaner:innen.
So wird aus der Idee rasch ein greifbares Projekt. Lehmstein – klein im Aufwand, gross in der Wirkung.
Autorin: Margit Geiger Lehmaktivistin
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